Der Lockdown: vorher, während und danach

Corona
Was wird werden?
2 Meter Abstand
Die Zeit steht still
Homeschooling
Kurzarbeit
Maskenpflicht
Hoffentlich isches gli verbii

16. März 2020: Der Bundesrat verkündet die ausserordentliche Lage und heisst die Bevölkerung, zuhause zu bleiben. Alle, die den Lockdown erlebt haben, werden sich immer an diese spezielle Zeit erinnern. An die Ungewissheit zuvor, die Ruhe während und die neue Normalität danach − mit der Maskenpflicht, die Teil unseres Alltags geworden ist. Für die Fotografin Anne Gabriel-Jürgens, Art Director Brigitte Lampert und sechs Genossenschaft/-innen des Sonnengartens ist die Zeit vor dem Lockdown mit Erinnerungen an die Fotoshootings für den Jahresbericht 2019 verbunden. Sie haben Ende Februar bis Mitte März stattgefunden. Es war zunehmend unsicher, ob alle Fotos wie geplant realisiert werden können. Doch alles klappte. Der Lockdown kam genau einen Tag, nachdem das letzte Foto im Kasten war. Die Fotoshootings fanden in besonderer Atmosphäre statt. Sie waren geprägt von einer Ahnung, dass bald alles anders sein würde, aber auch von der grossen Herzlichkeit der porträtierten Menschen, welche ihre Wohnung trotz der drohenden Pandemie vertrauensvoll öffneten. Wie haben die Beteiligten nochmals kontaktiert, um die Geschichten aus dem Jahresbericht fortzuschreiben. Sie erzählen, wie sie die Zeit erlebt haben und wie sie mit der heutigen Situation zurechtkommen.

Anne Gabriel Jürgens, Fotografin

Man spürte, da passiert was

«Das Ganze war eine stille Aktion, ein Abtauchen in unbekannte Welten. Auch die Spaziergänge durch die Siedlungen waren speziell. Einmal hatte es geschneit, auf der einen Seite des Weges war grüne Wiese, auf der anderen lag Schnee. Wir arbeiteten konzentriert, wie in einer Zwischenwelt. Man spürte, da passiert was.»

Anne Gabriel Jürgens, Fotografin

 

Brigitte Lampert, Art Director/Grafikerin

Es war eine fragile Zeit

«Es war eines der wunderlichsten Fotoshootings, das ich je erlebt habe. Es lag eine Stille über der ganzen Stadt. In den Treppenhäusern roch es nach Desinfektionsmitteln. Die Situation veränderte sich täglich bis zum Lockdown. Alles war ungewiss, fragil. Wir wussten nicht, ob wir noch mit dem Bus fahren und die Fotostrecke abschliessen konnten. Wir waren unsicher, wie wir die Leute begrüssen sollten. Wir mussten alle fragen, ob wir einander die Hand geben wollen oder nicht. Aber wir spürten von allen, dass sie das Shooting für die Genossenschaft durchziehen wollten. Alle Genossenschafter/-innen haben uns nahe herangelassen und uns sehr herzlich empfangen. Fast alle hatten einen Kuchen gebacken. Das berührte uns sehr. Vielleicht auch, weil sich abzeichnete, dass es diese Nähe bald nicht mehr so geben würde.»

Brigitte Lampert, Art Designer/Grafikerin

Patricia Kral, Genossenschafterin Siedlung Wydäcker

Uns fehlte nichts

«Ich war in der 34. Schwangerschaftswoche. Zur Zeit des Fotoshootings hätte es jeden Tag losgehen können. Ich wünschte mir eine spontane Geburt für unsere Zwillinge. Aber ich hatte auch Respekt. Ich wusste, dass ich alleine im Wochenbett sein würde. Die Regeln im Spital änderten jeden Tag. Eine grosse Sorge war, dass mein Mann Alex mich nicht zur Geburt begleiten durfte. Zum Glück konnte er doch dabei sein, und es lief alles gut. Kurz nach der Geburt der Zwillinge wurde die Maskenpflicht für Gebärende eingeführt. Das hätte ich mir nicht vorstellen können. Die zwei Tage alleine im Wochenbett waren für mich okay. Ich hatte mich darauf eingestellt. Den ersten Monat verbrachten wir zu fünft ganz allein und blieben grösstenteils zu Hause. Mein Mann hatte einen Monat frei genommen. Freunde brachten uns Essen und Windeln vorbei. Wir zeigten unsere Babys vom Fenster aus. Uns fehlte nichts, der Lockdown brachte trotz den zwei Neuankömmlingen viel Ruhe in die Familie. Jetzt bin ich sehr froh, dass Alex immer noch im Homeoffice ist. Es ist uuh streng, wir schlafen kaum, aber es läuft gut. Unsere Kleinen beglücken uns täglich. Die grösste Belastung im Lockdown war die Wohnsituation. Im Sommer war es einfach zu heiss zu fünft in unserer kleinen 3-Zimmer-Wohnung. Jetzt haben wir endlich die Zusage für eine städtische Wohnung im Riesbach erhalten. Mit grosser Vorfreude, aber auch mit einem weinenden Auge ziehen wir nach zwölf Jahren aus dem Kreis 9 weg.

Patricia Kral, Siedlung Wydäcker

Gaby Wyden, Genossenschafterin Siedlung Riedhof

Alli sind so tuuch

«An Bus und Tramhaltestellen war auf einmal zu lesen: ‹Bleibt zu Hause. Alle.› Das Einkaufen war nicht mehr wie früher. Plötzlich sprachen alle von ausverkauftem Toilettenpapier. Verunsicherte und ängstliche Menschen prägten ein Bild von nie Dagewesenem. Es gab Freunde, die nicht telefonierten, weil sie irritiert und mit sich beschäftigt waren. Ich realisierte: Ab jetzt habe ich keine Termine mehr. Aber es war okay für mich, dass ich meine Ruhe hatte. Endlich hatte ich Zeit, mich um mein verstaubtes Buch zu kümmern. Auf der anderen Seite fehlten mir meine Enkelkinder. Kinder sind der Motor dieser Welt, und jetzt dürfen sie mich nicht mehr umarmen? Ich ging oft in den Wald und machte ein Feuerchen. Ich dachte über vieles nach. Was und wie geht es weiter? Präsentiert die Natur den Menschen die Rechnung für ihre egoistische, verschwenderische und rücksichtslose Verhaltensweise? Die Zeit stand während des Lockdowns still. Ich fiel keiner äusseren Ablenkung mehr zum Opfer und empfand diese Zeit auch als erholsam und geistig anregend. Heute sind alle vermummt. Überall diese Masken, das irritiert mich. Alle sind tuuch, ein bisschen gedämpft. Man weiss nicht mehr, was man glauben soll; alles ist so komplex. Manchmal denke ich: Ist es denn verboten zu sterben? Ich finde es normal, dass Menschen kommen und gehen.»

Gaby Wyden, Siedlung Riedhof

Peter Wenger, Genossenschafter Siedlung Goldacker

Man sieht kein Lächeln mehr

«Es war schon seltsam zu erleben, dass die Leute auf einmal einen Bogen um einen herum machten. Ich musste auch während des Lockdowns immer raus. Ich habe ja meine Fische; die muss ich täglich zweimal füttern. Meine Frau und ich sind auch weiterhin bei meinem Schwiegervater vorbei. Ohne das, wäre es ja nicht gegangen. Jetzt habe ich schon ein bisschen Mühe, mich mit den Masken abzufinden. Man sieht kein Lächeln mehr. Für mich ist das ein bisschen übertrieben. Ich verstehe nicht so recht, was das soll: Maskenpflicht im ÖV und gleichzeitig gumpen die Jungen in den Clubs herum. Und trotz Maskenpflicht gibt es so viele Neuansteckungen täglich. Man weiss nicht, was man vom Ganzen halten soll. Mein Inneres sagt mir, dass Corona für mich keine Gefahr ist. Ich hatte nie gross Angst.»

Peter Wenger, Siedlung Goldacker

Luc Bernet, Genossenschafter Siedlung Rütihof

Es isch, wie’s isch

«Für mich hat die ganze Situation immer noch etwas Surreales. Ich hätte nie gedacht, dass alles so schnell kommt. Ich habe bald realisiert, dass die Leute wirklich Angst haben. Das hat mich ein wenig erstaunt. Ich mache mir gesundheitlich nicht so Sorgen, obwohl ich als Allergiker und Asthmatiker einer Risikogruppe angehöre. Die Maskenpflicht finde ich okay. Aber ich hoffe schon, dass die neue Realität nicht permanent wird. Meine Tochter soll nicht in einer Gesellschaft aufwachsen, in der alle Angst haben, nebeneinander zu sitzen oder sich die Hände zu schütteln. Ich bin froh, dass es uns in der Schweiz nicht so fest erwischt hat. Momentan funktioniert es gut mit der Kurzarbeit. Ich habe eher Angst davor, was in zwei, drei Jahren passiert. Als Familienbetrieb in der Gastrobranche sind wir fest betroffen. In der Produktion konnte ein Teil des Teams weiterarbeiten, aber viele unserer baulichen Projekte wurden verschoben. Wir brauchen sicher vier Jahre, bis wir uns erholt haben. Trotzdem bin ich optimistisch. Es isch, wie’s isch! Das Leben geht weiter. Wir sind eine gute Familie und haben einen super Zusammenhalt, das ist das Wichtigste.»

Luc Bernet, Siedlung Rütihof

 

Hermann Weiss, Genossenschafter Siedlung Triemli

Das mit den Masken ist Gugus

«Ich merke eigentlich nichts von Corona. Meine Tochter geht für mich einkaufen. Ich habe ein ruhiges Leben. Manchmal ist es auch ein wenig eintönig, immer nur in der Wohnung. Wobei ich jeden Tag zweimal rausgehe. Ich mache eine Runde um die Häuser, einmal um 11 und einmal um 15 Uhr. Aber nur bei schönem Wetter, bei Regen geht das nicht mit dem Rollator. Bei gutem Wetter gehe ich am Montagnachmittag auch mit der anderen Tochter und meinem Schwiegersohn in den Hundeclub. Er hündelete schon seit vierzig Jahren und bildet Schäferhunde aus. Aber eben, sonst gehe ich nicht mehr viel raus. Das mit den Masken ist Gugus für mich. Dieses Virus mag mein Körper schon vertragen. Ich habe Diabetes und einen Fuss nicht mehr, aber sonst ist es mir eigentlich vögeliwohl. Kürzlich habe ich meinen 93-sten Geburtstag gefeiert, da habe ich meiner Familie gesagt: Mir ist es am wohlsten hier in der Wohnung, am Küchentisch. Das Wichtigste ist, dass man mit dem Leben zufrieden ist.»

Hermann Weiss, Siedlung Triemli

Aishu Reshmi und Bryan Ramesh, Siedlung Triemli

Meine Kinder waren im Ferienmodus

«Das Fotoshooting war am 15. März, ein Tag vor dem Lockdown. Man wusste nicht, ob man Abstand nehmen sollte oder nicht – das war schon seltsam und unangenehm. Die Fotografin fotografierte aus sicherer Distanz. Das Belastende kam für mich nachher: die Kinderbetreuung und das Homeschooling neben dem Arbeiten. Das war streng. Die Unterlagen für den Unterricht von Aishu waren gut, es waren auch coole Spiele dabei. Aber die Erwartungen seitens der Schule waren hoch, und ich bin ja keine Lehrerin! Meine beiden Kinder waren im Ferienmodus. Es war schwierig für mich, das Schulzimmer im Wohnzimmer umzusetzen. Andererseits wollte Ryan, der noch im Kindergarten war, auch an den PC wie seine grosse Schwester. Er hat ihre Hausaufgaben gemacht. So hat er gelernt zu lesen und zu rechnen, bevor er im August in die Schule kam. An die Maske habe ich mich unterdessen gewöhnt. Als Dentalassistentin trage ich sie ja fast den ganzen Tag. Zu Beginn war es sehr gewöhnungsbedürftig; mir hat der Sauerstoff gefehlt. Aber wir Menschen passen uns schnell an: ob Unterricht zu Hause, Lernen am PC oder eine Maske tragen − was einst undenkbar war, wird normal. Wir sind Gewohnheitstiere.»

Mayura Ramesh, Mami von Aishu Reshmi und Ryan Ramesh, Siedlung Triemli